Johanna Schmeer, The Outside Inside; Foto: Christian Schmeer
Bio-Design, Bio-Hacking und Design Fiction – Bio-inspiriertes Design der Zukunft
Welt im Wandel
Auf der Suche nach Lösungen für die Herausforderungen der Zukunft nutzen immer mehr Erfinder und Entwickler die Natur als Vorbild und Sprungbrett. Sie begreifen die Biosphäre als faszinierende Ressource, von deren Prinzipien wir enorm viel lernen können. Doch während begrünte Fassaden und Burger aus dem Labor bereits andeuten, was hier eventuell möglich ist, gehen ambitionierte Künstler, Forscher und Unternehmer deutlich weiter. Mit geschickt nachgeahmten biologischen Prozessen, bewussten Eingriffen in unsere (Um-)Welt und sogar Projekten, die versuchen, technischen Kreationen eigenes Leben einzuhauchen.
Johanna Schmeer, The Outside Inside; Foto: Christian Schmeer
Willkommen in der Technosphäre
Seine Umwelt hat der Mensch bereits seit Urzeiten gestaltet. Werkzeuge aus Stein oder Eisen wurden im Laufe der Industriellen Revolution durch Maschinen, Dynamit und Chemikalien ersetzt. Doch auch auf biologischer Ebene haben wir die Welt entscheidend mitgeformt. Wenn wir etwas zurückspulen, begann dieser Prozess menschgemachter Natur bereits vor über 10.000 Jahren mit Ackerbau und Viehzucht. Über die Mendelsche Vererbungslehre sind wir mittlerweile beim Eingriff in die Keimbahnen von Organismen (genetische Manipulation) gelandet . So ist die Menschheit zum offiziellen Gärtner und Ingenieur des Planeten aufgestiegen. Kaum 10 Prozent der Landfläche sind noch relativ unberührt: Die sogenannte Technosphärewiegt mittlerweile mehr als 30 Billiarden Tonnen – was sich nicht immer besonders gut mit der restlichen Biosphäreverträgt. Laut Professor Mark Williams von der Leicester-Universität ist die Technosphäre „erstaunlich schlecht darin, ihre eigenen Materialien zu recyceln. Das könnte ihr in Zukunft klare Grenzen aufzeigen.”
Spekulieren erwünscht
Angesichts drohender Klimakrise, Umweltverschmutzung und Ressourcenmangel sind neuartige Ansätze also dringend gefragt. Hier zeigt sich das Potenzial von spekulativem oder kritischem Design, das wichtige Diskussionen über ein mögliches Miteinander zwischen Umwelt, Technologie und uns Menschen startet und die Konsequenzen unseres Handelns fassbar macht. Die Künstlerin Johanna Schmeer zeigt im Futurium beispielsweise mögliche Zukunftsszenarien anhand kleiner Ökosysteme des Jahres 2100. Laut ihr geht es „zwar mehr darum, Fragen zu stellen oder andere Perspektiven aufzuzeigen, als Lösungen zu liefern. Aber auch in der Forschung werden solche Ansätze immer mehr genutzt, um konkrete, funktionale Designs zu entwickeln.“ Denn diese Fragen können ungewöhnliche Antworten abseits klassischer, linearer Lösungsansätze inspirieren. Dazu arbeiten immer mehr Künstler, Designer und Biologen aus aller Welt gezielt zusammen. Die Ergebnisse: biologische Computer, die Formen berechnen, Algen, die sich von Platinen ernähren – oder veganes Leder aus Pilzen.
Die größten Innovationen des 21. Jahrhunderts werden an der Schnittstelle von Biologie und Technologie passieren. Wir erleben hier gerade den Beginn einer neuen Ära.
Der Wert der Kreativität
Das Berliner Projekt Mind the Fungi nennt diesen Prozess „from STEM to STEAM“ (die wissenschaftlichen MINT-Fächererweitert um Kunst). Denn wenn Kunst und Wissenschaft nicht länger getrennt sind, sondern Künstler*innen und Designer*innen mit Forscher*innen und Entwickler*innen gemeinsame Sache machen, entstehen oft ganz neue Ideen und Möglichkeiten. Bei Mind the Fungi sind das ungewöhnliche Werkstoffe aus Pilzmaterial. Auch Dr. Robert Richter, der die mathematischen Prinzipien der Natur erforscht, setzt auf die Mischung aus Kunst und Wissenschaft. „Erst seit Kurzem gibt es auch Künstler, die die Natur nicht nur abbilden, sondern Kunst schaffen, die ähnliche Prozesse nutzt wie komplexe Strukturen in der Natur. Das nennt sich dann generative Kunst: Das Werk entsteht durch das Ausführen eines Regelsatzes, wobei einfache Regeln oft zu komplexen Ergebnissen führen können.“ Künstler wie Richter erforschen und nutzen die Formen und Prinzipien der Natur, um daraus etwas ganz Neues zu gestalten.
Auch Johanna Schmeer forscht an der Grenze von Kunst, Design und Wissenschaft. In ihrem Projekt im Futurium geht es um gegenwärtige und mögliche zukünftige Beziehungen zwischen Umwelt, Natur und Technik. Diese werden in ihrer Installation anhand des Beispiels von Terraformingund Geoengineering ausgelotet. Futuristisch anmutende Ansätze, die teilweise heute schon zur Anwendung kommen und kontrovers diskutiert werden, wie im Beispiel des Cloud Seeding Projekts in China. Doch es gibt auch Pflanzen und Pilze, die Terraforming Fähigkeiten haben und ihre Umwelt verändern können, indem sie z. B. Böden kühlen, vor Erosion schützen oder von Giftstoffen befreien. Diese kommen in Schmeers Installation zum Einsatz, um Fragen aufzuwerfen – “Wann ist „Natur“ nicht länger „natürlich“? Ab welchem Punkt wird Biologie zur Technik?”
Johanna Schmeer: The Outside Inside. Die Terrarien zeigen mögliche Zukunftsszenarien anhand kleiner Ökosysteme des Jahres 2100.
Foto: Christian Schmeer
„Die Natur ist smart und faul“
Auch wenn alle drei Künstler mit ihren Projekten kräftig um die Ecke denken: Bei der Entwicklung ungewöhnlicher Lösungswege hat uns die Natur einiges voraus. Schließlich hatte die Evolution „3,8 Milliarden Jahre Zeit für Forschung und Entwicklung“, so Jamie Dwyer von Biomimicry 3.8. „Wenn man die ausgestorbenen ‚evolutionären Sackgassen‘ einrechnet, machen die erfolgreichen Arten gerade mal 0,1 Prozent aus.“ Da Millionen verworfener Prototypen in der kommerziellen Forschung und Entwicklung undenkbar wären, lohnt es sich, erfolgreiche Konzepte aus der Natur wie die federleichte, aber extrem widerstandsfähige Spinnenseide, die wasserabweisende Oberfläche von Lotusblättern oder die Haftkraft von Geckofüßenzu kopieren und auf neue Produkte zu übertragen.
Zwei Aspekte dieser sogenannten Biomimetik, bei der Wissenschaft, Architektur und Produktion natürliche Systeme und Modelle nachahmen, sind besonders kopierenswert: neue, ressourcenschonende Materialeigenschaften und effiziente Abfallvermeidung durch clevere Kreisläufe und ständige Wiederverwertung. Die Ingenieurin und Princeton-Dozentin Sigrid Adriaenssens bringt es wunderschön trocken auf den Punkt: Die Natur ist „smart und faul“. Was sein Ziel mit möglichst wenigen Ressourcen erreicht, setzt sich hier erfolgreich durch. Und Abfälle werden in der Natur von anderen Lebensformen als Nahrungsmittel weiterverwendet, was auch unsere Ökosysteme im Gleichgewicht hält. Wie sich Vorbilder aus der Natur in hypermoderne Materialien verwandeln lassen, macht u. a. die Architektin und Designerin Jenny Sabinvor. Sie strickt gerade an selbstleuchtenden Geweben, die an Zellstrukturen erinnern. Stricken darf dabei übrigens ruhig wörtlich genommen werden, denn „Stricken ist die Urform des 3D-Drucks. Reihe um Reihe wird hier eine Masche an die nächste gekettet.“
Die Wissenschaft der Natur
Das, was diese Prinzipien verbindet, heißt nicht umsonst ‚Naturwissenschaften’. Robert Richter faszinieren besonders die oft sehr simplen mathematischen und geometrischen Regeln, die hinter der unermesslichen Vielfalt an Formen, Funktionen und Farben in der Natur stecken. „Als Naturwissenschaftler interessieren mich natürlich die Gesetzmäßigkeiten, nach denen die Natur aufgebaut ist und wie sie funktioniert. Die Schnittstelle aus Physik, Biologie und Mathematik ist besonders spannend, da man dort manchmal extrem komplex erscheinende Probleme mit sehr einfachen Mitteln lösen kann, z. B. die Muster von Tieren wie Zebra, Giraffe und Leopard. Die zugrunde liegenden Prinzipien sind hier Selbstorganisation und Strukturbildung.“
Solche Ansätze nutzen mittlerweile auch Ingenieure in der Robotik, um z. B. Robotern das Laufen beizubringen. Frei nach dem evolutionären Prinzip der natürlichen Auslese simuliert ein Computeralgorithmus Laufbewegungen und ändert mit jedem Durchlauf die Variablen. Was nicht funktioniert, wird nach jedem Durchgang herausgesiebt, bis am Ende nach unzähligen, simulierten Runden der beste, stabilste Gang zurückbleibt.
Mit dem Spirograph lassen sich optische Kunstwerke erstellen, die auch in der Natur zu finden sind.
Foto: Robert Richter
Lebendige Forschung
Andere Biodesigner*innen gehen noch einen Schritt weiter und nehmen bewusst Eingriff ins Erbgut von Menschen, Pflanzen und Tieren. Sie nutzen die Natur quasi als Gestaltungsmaterial und Leinwand für neue Ideen. Dabei experimentieren sie zum Beispiel mit Kombucha-Pilzen, Ananas, Maisstengeln oder Bakterien, um lederartige Materialien zu erzeugen, die deutlich umweltfreundlicher sind als klassische, gegerbte Tierprodukte. Oder wie wäre es mit Ziegeln aus dem Gewächshaus? Der „biologische Zement“ von bioMASONersetzt bei Bedarf sogar Straßenlaternen, da diese Mauerziegel bei Nacht leuchten können. „Unsere Methode funktioniert ähnlich wie Mikroorganismen, die Korallenriffe bilden. So wird deutlich weniger CO2 produziert als bei vergleichbaren Baumaterialien“, erklärt die Geschäftsführerin Ginger Krieg Dosier.
Keine Angst vor Synthetik
Die Synthetische Biologie verwischt endgültig die Grenzen zwischen Biologie und Technik, Leben und Architektur. Lebewesen werden hier zum programmierbaren Ausgangsmaterial für umweltfreundliche Kraftstoffe, nachhaltige Herstellung oder neue Medizinprodukte. Vorreiter des noch jungen Forschungsfelds war Craig Venter, der 2010 die erste synthetische Lebensform aus dem Labor kreierte – eine Kopie des Bakteriums Mycoplasma mycoides. Dabei hat das Team u. a. ein Wasserzeichen und zwei Zitate in die DNS eingeschleust.
Der Journalist James Mitchell Crow hält das Potenzial von Synbio für fast unerschöpflich: „In Zukunft könnten synthetische Quallen Wasserwege gezielt nach Schadstoffen absuchen, während Hefen umweltfreundliche Kraft- und Kunststoffe produzieren. Nicht zu vergessen Viren, die gezielt Krebszellen abtöten bzw. elektronische Geräte, die sich wie Lebewesen selbst reparieren.“ Ob Zellfabrik, Biokraftstoffanlage oder Kunstprojekt – das Potenzial dieses biochemischen Baukastens scheint noch lange nicht ausgereizt. Mittlerweile sind sogar künstliche Moleküle als Datenspeicher für ganze Bibliotheken denkbar.
Das wahre Leben?
Ist das, was dort im Labor passiert, schon lebendig? Lässt sich Leben nachbauen? Und kann Technologie sogar ein eigenes Bewusstsein entwickeln? Mit seiner Noosphere nähert sich der Künstler und Architekt Philip Beesley dem Thema von einer anderen Seite. Seine Installationen imitieren biologische Prozesse, um das Zusammenspiel des Lebens zu erforschen. „Leben ist vielleicht etwas gewagt, aber wir verstehen immer besser, wie lebendige Systeme funktionieren. Sie regenerieren sich. Sie sind tief in ihre Umwelt eingebettet. Solche Prinzipien können wir immer besser nachbilden”, so der Künstler. “Wir wissen mittlerweile zum Beispiel, dass viele winzige Mikroprozessoren, die in einem Netzwerk wie die Neuronen unseres Gehirns vernetzt sind, viel besser funktionieren als ein zentraler Supercomputer. Sie entwickeln eigene Verbindungen, Communities, Intelligenz und sogar so etwas wie Neugier. Viele kleine Elemente zusammen sind oft deutlich flexibler und widerstandsfähiger. Davon können auch wir als Gesellschaft lernen.”
Die Noosphere imitiert biologische Prozesse - fast so komplex wie die Welt. Foto: Sang Lee, Ph.D.
Natürliche Planungsprozesse
Der Netzwerkgedanke spiegelt nicht nur den Wert der Schwarmintelligenz, die z. B. Bienen oder Ameisen an den Tag legen, sondern hat noch ganz andere, unerwartete Vorteile. „Schleimpilz schlägt Stadtplaner“ lautete die ungewöhnliche Schlagzeile, als Biologen vor knapp zehn Jahren das Verhalten dieser unauffälligen Art erforschten. Mit nährstoffreichen Haferflocken stellten sie im Versuchslabor die Knotenpunkte der Tokioter U-Bahn nach. Auf der Suche nach Nahrung verband der Schleimpilz diese Haltestellen zu einem Netzwerk, dass mindestens so gut funktionierte als das offizielle Liniennetz. Mark Fricker von der Oxford-Universität erklärt, dass „der Schleimpilz zwar kein Zentralgehirn oder Bewusstsein für die Problemstellung hat, aber trotzdem automatisch eine Struktur wie das Bahnnetz produziert.“ Von Natur auf Effizienz gepolt finden diese „primitiven“ Lebensformen besonders sinnvolle Wege und können bei Bedarf schnell auf alternative Routen umstellen, wenn z. B. die Rush Hour droht oder eine Strecke (bzw. Haferflocke) ausfällt. Dies könnte sich auch gut zur flexiblen Planung anderer, kritischer Netzwerke eignen, um im Notfall neue, belastbare Verbindungen zu schaffen. Auch medizinische Fragen, z. B. wie Blutgefäße bei einer Krebserkrankung wachsen, lassen sich mit solchen Modellen eventuell besser klären.
Von veganem Leder bis hin zur Isolation von Häusern können Pilze als Materialbasis genutzt werden. Foto: Sang Lee PhD
Näher an der Natur
Je mehr wir in diese Richtung forschen, desto offensichtlicher wird, wie viel wir noch von der Natur lernen können. In ihrer unschätzbar wertvollen Schatzkiste an Ideen, Konzepten und Erbgut schlummert noch viel, was wir bisher noch gar nicht entdeckt oder überhaupt bedacht haben. Um diese Ressource nicht zu zerstören, brauchen wir neben aller Begeisterung für Forschung, Entdeckung und neue Horizonte auch ein besseres Verständnis für die Position, die wir in diesem Geflecht selbst einnehmen: als untrennbarer Teil der Natur, der ihr mit Respekt und Offenheit begegnen sollte. Und natürlich mit vielen „was wäre, wenn …?”-Fragen. Johanna Schmeer ist sich sicher: „Die Fragen, die wir uns heute stellen, die Perspektiven, die wir in Betracht ziehen, und die Ideen, die wir daraus entwickeln, können die Zukunft formen.“