Ein Gastbeitrag
Was ist der Gentechnologiebericht?
Die interdisziplinäre Arbeitsgruppe (IAG) Gentechnologiebericht setzt sich mit den aktuellen Entwicklungen der unterschiedlichen Gentechnologien in Deutschland auseinander. Was genau ihre Aufgaben sind und wie sie arbeitet, erklärt die IAG in einem Gastbeitrag.
Bieten Gentechnologien große Chancen auf eine bessere Medizin, auf ertragreichere Nutzpflanzen und wirtschaftlichen Aufschwung? Oder bergen sie unkalkulierbare Risiken für unsere Gesundheit, die Umwelt und den Zusammenhalt in der Gesellschaft? Keine andere Technologie hat den alten Streit über den technischen Fortschritt als Segen oder Fluch in den vergangenen Jahrzehnten so stark neu entfacht wie die Gentechnologien. Die Gründe hierfür sind ebenso vielfältig wie die Forschungsrichtungen und Anwendungsbereiche, die die Gentechnologien betreffen, und auch die Lebensbereiche, die sie tangieren.
Zum Beispiel bietet die Eingriffstiefe der Genomchirurgie große Chancen und birgt dabei auch große Risiken: Gentechnologisch kann unmittelbar die Erbsubstanz aller Lebewesen verändert werden, von Mikroorganismen über Pflanzen und Tiere bis hin zum Menschen selbst. Mit der Entwicklung immer präziserer und kostengünstigerer Genscheren wie Crispr/Cas9 verschieben sich die Grenzen des Machbaren in atemberaubendem Tempo. Sie umfassen mittlerweile die Möglichkeit, über Keimbahneingriffe nicht nur die genetischen Anlagen eines Menschen, sondern auch von künftigen Generationen zu verändern. Gentechnologien werfen damit ganz grundsätzliche Fragen nach der Zukunft der Menschheit, unserem Selbstverständnis und Verhältnis zur Natur, nicht zuletzt der eigenen, auf. Wie weit kann, wie weit darf, wie weit sollte oder muss gentechnologische Forschung und Anwendung gehen? Wie lassen sich Risiken und Chancen, gesellschaftliche Auswirkungen und ethische Probleme differenziert und möglichst unvoreingenommen beurteilen? Die rasanten Entwicklungen gentechnologischer Forschung und Anwendung und der damit einhergehende gesellschaftliche Wandel bedürfen der öffentlichen Diskussion und demokratischen Entscheidungsfindung und stellen die Wissenschaftskommunikation damit vor große Herausforderungen.
Vor diesem Hintergrund und angesichts der zum Teil stark polarisierten öffentlichen Debatten ist das Hauptanliegen der interdisziplinären Arbeitsgruppe (IAG) Gentechnologiebericht an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (BBAW), die Voraussetzungen für einen unvoreingenommenen und möglichst ergebnisoffenen gesellschaftlichen Diskurs über Gentechnologien in Deutschland zu fördern. Die Arbeitsgruppe, zusammengesetzt aus namhaften Forschenden auf den Gebieten der Medizin, Natur-, Geistes- und Sozialwissenschaften, bietet hierfür ein langfristiges Beobachtungsgremium, das die unterschiedlichen Anwendungen der Gentechnologien sorgfältig aufarbeitet und deren Entwicklungen im Blick behält. Neben der ausführlichen Darstellung des aktuellen internationalen wissenschaftlichen Sachstandes und der rechtlichen Rahmenbedingungen für die Nutzung von Gentechnologien insbesondere in Deutschland werden auch die vielfältigen Einsatzbereiche gentechnologischer Verfahren allgemeinverständlich erläutert und aus unterschiedlichen Perspektiven kritisch beleuchtet. Naturwissenschaftliche, medizinische, wirtschaftliche und ökologische Aspekte einzelner gentechnologischer Anwendungen werden ebenso von der Arbeitsgruppe in den Blick genommen wie ethische, politische und soziale Fragen. Zudem bietet die IAG Gentechnologiebericht Entscheidungsträger*innen in Politik und Gesellschaft Orientierung durch konkrete Handlungsempfehlungen an.
Der Gentechnologiebericht
Zu diesen Aspekten erscheint in Abständen von ca. 3–5 Jahren ein umfassender Gentechnologiebericht, der der Gruppe ihren Namen gegeben hat. Ziel dieses Berichtes ist es, einen breiten, zusammenfassenden Überblick über das komplexe Feld der Gentechnologien zu geben. Zuletzt erschien 2018 der „Vierte Gentechnologiebericht“. Um darüber hinaus gezielt einzelne Themen zu vertiefen und auch schnell auf aktuelle Entwicklungen in Forschung und Gesellschaft reagieren zu können, publizieren wir regelmäßig Themenbände, Stellungnahmen und Broschüren, die jeweils ein bestimmtes Thema aus dem breiten Spektrum der Gentechnologien in den Blick nehmen.
In den letzten Jahren zählten hierzu die Einzelzellanalyse (2019), die Stammzellforschung (2006 und 2018), die Epigenetik (2017) und die Genomchirurgie (2015). Weitere Themen der IAG sind die Grüne Gentechnologie (2007 und 2013), die Synthetische Biologie (2012), die Gentherapie (2011) sowie die Gendiagnostik (2007).
Mit der Herausgabe unserer Berichte, Themenbände und Broschüren wollen wir die interessierte Öffentlichkeit, Wissenschaftler*innen, NGOs, Fach- und Berufsverbände wie auch Vertreter*innen aus der Politik und weitere Stakeholder erreichen und miteinander ins Gespräch bringen.
Ein wichtiges Zukunftsthema: Organoide
Aktuell arbeiten wir an einem Themenband zum Forschungsbereich Organoide. Organoide sind dreidimensionale Gebilde aus verschiedenen Zelltypen, die in Form und Funktion bestimmten Organen ähnlich sind. So gibt es bereits Darmorganoide, Hirnorganoide oder Leberorganoide. Ihre Erforschung verspricht grundlegend neue Kenntnisse über Organ- und Krankheitsentstehung und in der Entwicklungsbiologie. Außerdem sind neue Anwendungsmöglichkeiten auf dem Gebiet der regenerativen Medizin durch Zell-, Gewebe- und vielleicht sogar Organersatz künftig möglich. Auch für die Medikamentenentwicklung und die personalisierte Medizin bieten sich durch Organoide neue Möglichkeiten: Zum Beispiel lassen sich an diesen Strukturen in der Petrischale Arzneimittelreaktionen von Patient*innen an aus ihren eigenen Zellen entwickelten Organoiden voruntersuchen. Es besteht zudem die Hoffnung, dass Organoide zur Reduktion von Tierversuchen beitragen können, indem sie die Erforschung der Wirkungen und Nebenwirkungen neuer Medikamente ermöglichen.
Wissen vermitteln und diskutieren
Wir halten Vorträge an Schulen ebenso wie auf Fachtagungen und organisieren Veranstaltungen für unterschiedliche Zielgruppen, bspw. Akademievorlesungen, Symposien, Stakeholder-Workshops und Lehrerfortbildungen. Mit diesen vielfältigen Veranstaltungsformaten sollen Wissen über Gentechnologien einer breiten Öffentlichkeit vermittelt und gesellschaftliche Diskussionsprozesse angestoßen werden.
Bei der Erstellung unserer Publikationen, auch in Zusammenarbeit mit externen Expert*innen sowie mit für die jeweiligen Themen einschlägigen Organisationen und Institutionen, besteht eine besondere Aufgabe der IAG darin, die unterschiedlichen Gentechnologien nicht nur durch qualitative inhaltliche, sondern auch durch quantitative Analysen in einer messbaren und repräsentativen Form darzustellen. Hierzu identifizieren wir anhand von Presseartikeln aus ausgewählten auflagenstarken Medien (Die ZEIT, SZ, FAZ und der Spiegel), Webseitenbeiträgen und Stellungnahmen, welche Themen in den genannten Medien und Quellen zu einer bestimmten gentechnologischen Anwendung präsent sind. Hieraus leiten wir Problemfelder ab. Problemfelder umfassen Themenbereiche und Fragestellungen, die von der Öffentlichkeit wahrgenommen und mitunter kontrovers diskutiert werden. Die Problemfelder setzen wir dabei in Beziehung zu vier Leitdimensionen: Wissenschaft, Ökonomie, Soziales und Ethik. So wird verdeutlicht, dass technische Entwicklungen und Neuerungen aus vielen verschiedenen Perspektiven betrachtet werden können. Beispiele für Problemfelder sind der Forschungsstandort Deutschland oder die Patentierung wissenschaftlicher Ergebnisse.
Problemfelder zur Stammzellforschung in Deutschland: Je häufiger ein Problemfeld in verschiedenen Texten thematisiert wurde, desto größer und dunkler ist das Feld.
Quelle: Könninger, S., & Marx-Stölting, L. (2018). Problemfelder und Indikatoren zur Stammzellforschung. In M. Zenke, L. Marx-Stölting, & H. Schickl (Eds.), Stammzellforschung: Aktuelle wissenschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungen. Baden-Baden: Nomos, S. 59.
Die Abbildung zeigt beispielhaft eine Problemfeldgrafik zum Thema Stammzellforschung in Deutschland. In einem nächsten Schritt werden zu den identifizierten Problemfeldern messbare Daten (Indikatoren) erhoben. Für das Problemfeld Forschungsstandort Deutschland ist ein möglicher Indikator bspw. die Anzahl der Fachpublikationen mit deutscher Erstautorschaft zum jeweiligen Thema. Durch die kontinuierliche Sammlung dieser Daten lässt sich grafisch abbilden, wie sich ein Bereich über einen gewissen Zeitraum hinweg und zum Teil auch im internationalen Vergleich in Deutschland entwickelt.